|
Site-Info: Editorial > Ride Insights >
Jetline und Vilda Musen - Das starke Duo von Gröna Lund |
|
|
Für die Verantwortlichen von Gröna Lund ist
jede neue Attraktion eine Herausforderung. Schließlich will die Neuheit
auf dem gerade einmal viereinhalb Hektar großen Gelände im Herzen
der schwedischen Hauptstadt Stockholm untergebracht werden. 30 Attraktionen
bietet der Tivoli, darunter fünf Achterbahnen. Die größte von
ihnen stammt aus dem Jahre 1988, die vom Standort spektakulärste wurde zum
120-jährigen Bestehen des Vergnügungsareals im Frühjahr 2003
eröffnet. Beide Layouts beanspruchen für ihren Schienenverlauf die
gleiche Struktur. Das wirkt nicht nur auf den ersten Blick kurios, für den
Attraktionschef Peter Osbeck ist dies sogar fast eine
Selbstverständlichkeit.
Der Park wollte unbedingt eine Wilde Maus präsentieren,
und die vorherrschende Platznot führte zu diesem
außergewöhnlichen Clou. Fast wäre die Ingenieursleistung nicht
realisiert worden, doch schließlich konnte auch der omnipräsente
Achterbahndesigner Werner Stengel überzeugt werden. So rasen nun die
Einzelwagen der Vilda Musen durch die Struktur des mächtigen Jetline
Coaster. Begegnungen der Fahrzeuge sind in diesem Schienengewirr nicht
ausgeschlossen.
Die Wurzeln von Gröna Lund, dem "Grünen
Wäldchen" Stockholms, reichen bis ins Jahr 1883 zurück: Es begann mit
einem kleinen Karussell nebst einer Restauration und einem Varietézelt
unter Führung des deutschen Geschäftsmanns Jacob Schultheiss. Rund
100 Jahre später ist der Park unweit des schwedischen Königshauses zu
einem der beliebtesten Ausflugsziele Stockholms aufgestiegen und überragt
mit seinen "Bauwerken" fast wie selbstverständlich die Skyline der nahen
City. Der mit 90 Metern höchste Free Fall Tower Europas ist nur eines
dieser Markenzeichen. Die beiden spektakulären, ineinanderverwobenen
Schienenbahnen sind die weiteren Top Attraktionen. |
|
|
|
|
Panorama von
Gröna Lund von links nach rechts: Insane, Kettenkarussell und Fun House im
Hintergrund, Space Shot, Jetline und Vilda Musen sowie der Inverted Coaster
Kvasten |
|
|
|
|
Die Abfahrt aus der ersten Blockbremse
führt hinab zum Boden |
Ende der 80er Jahre entstand aus einer Kooperation der
Achterbahnlegende Anton Schwarzkopf mit den deutschen Firmen Zierer und BHS der
Speedracer Jetline. Der hellblaue Stahlkoloss stellte bei seiner Premiere die
größte Einzelinvestition in der Geschichte Gröna Lunds dar.
Trotz seiner überaus kompakten Bauweise konnten annähernd 800
Schienenmeter installiert werden. Das Layout der Stahlkonstruktion erinnert
dabei an transportable Schwarzkopf Anlagen und bietet als besonderes Feature
einen ersten Drop nebst sich anschließender Steilkurve, die über
einen Teil des Tivolis hinüberführen.
Zur Saison 2000 erfuhr dieser Streckenabschnitt eine
komplette Umgestaltung, die den Thrillfaktor wesentlich verstärkte: Der
First Drop wurde in Höhendifferenz und Längsneigung derart
verändert, dass die siebengliedrigen Züge eine Spitzengeschwindigkeit
von 90 Stundenkilometern erreichen und bei ihrer ersten Schussfahrt in einen
Tunnel innerhalb eines Spiel- und Restaurationskomplexes eintauchen.
30 Meter geht es in die Tiefe, um nach der komplett umbauten
Taldurchfahrt mit kurzzeitigen viereinhalb g Anpressdruck der neugestalteten
Steilkurve entgegenzusteuern. Diese verhindert gerade noch den Kontakt mit dem
Wasser und leitet zugleich den Rückweg zum kompakten Schienenrund ein. Der
vom deutschen Stahlbauer Maurer Söhne in Zusammenarbeit mit dem
Ingenieurbüro Stengel durchgeführte Umbau wurde ein voller Erfolg und
steht in seiner Charakteristik komplett konträr zu dem sich
anschließenden "Höllenritt".
Obwohl keine Inversionsfigur verbaut wurde, liegt Jetlines
Fahrdynamik fern vom Prädikat familienfreundlich: Die G-Kräfte
reichen in den Grenzbereich des Machbaren und verleihen der Fahrt ihre fast
einzigartige Durchschlagskraft. Sie wird geprägt von steilen Drops und der
waghalsigen Aneinanderreihung von Kurven und Helices. Die konstant hohe
Geschwindigkeit tut dabei ihr übriges. Einmal stürzt der Zug fast
senkrecht in die kurvige Abfahrt, dann schließen sich Karussells mit
extrem engen Kurvenradien an.
Bei diesem Powerritt, der fast gänzlich ohne Airtime
daherkommt, wird es selbst hartgesottenen Achterbahnfans mulmig. Abschreckend
wirkt dies auf die Besucher von Gröna Lund aber keinesfalls: Mit rund
einer Million Fahrgästen pro Saison ist Jetline die beliebteste Attraktion
des Vergnügungsareals.
Äußerlich präsentiert sich das Stahlbauwerk
in seiner vollkommenen Natürlichkeit, Verkleidungen oder andere
Thematisierungselemente sucht der Besucher vergeblich. Von Anfang an geplant
war dieses "nackte" Erscheinungsbild allerdings nicht. Ursprünglich sollte
der Speedracer wie das fast baugleiche Exemplar in einem Freizeitpark im
japanischen Kobe mit einem künstlichen Bergmassiv ausgestattet werden.
Schon in der Planungsphase wurde dies bedacht und die Statik der tragenden
Stahlstruktur weitaus höher ausgelegt, als sie für die Traglast der
Konstruktion und die dynamischen Lasten notwendig gewesen wäre.
Dadurch fielen die Träger und
Stützelemente um ein vielfaches stabiler aus. Das einer Modellbahnanlage
gleichende Bergdiorama der asiatischen Bavarian Mountain Railway wurde dann
wegen des durchschlagenden Erfolges des Jetline jedoch gänzlich
überflüssig - Die schwedischen Verantwortlichen sind eben auch
Ökonomen. |
|
|
Links: Das Duo vom Wasser aus
gesehen |
Rund zehn Jahre später sollte sich die
Überdimensionierung des Tragwerks auszahlen. Peter Osbeck suchte
Möglichkeiten, eine Wilde Maus auf dem engen Parkareal unterzubringen. Das
von der Kirmes und diversen Parks bekannte, kompakte Standardlayout erschien
ihm zu simpel, und selbst für ein solches Layout bot das Gelände
nicht genügend Freifläche. Zusammen mit Wendelin Stückl, einem
deutschen Fachmann in Sachen Achterbahnen, der schon für diverse
Hersteller tätig war, entwickelte er drei Alternativen: Entweder
würde die Bahn über eine bestehende Oldtimerbahn gebaut, entlang der
Uferpromenade und sogar über das Wasser hinweg führen oder aber
einfach durch die dichte Stahlstruktur des Jetline Roller Coaster.
Während der erste Standort wegen mangelnder
Layoutmöglichkeiten schnell verworfen wurde und eine Überbauung des
Ufers die Kosten hätte explodieren lassen, stand letztendlich nur die
dritte Alternative zur Diskussion - eine Achterbahn in der Achterbahn. Peter
Osbeck und Wendelin Stückl waren von dieser genialen Idee überzeugt
und nach ersten überschlägigen Berechnungen stand fest, dass Jetlines
überdimensionierte Trägerstruktur auch die zusätzlichen
statischen und dynamischen Lasten einer Wilden Maus aufnehmen könnte.
Eine Hürde musste aber noch genommen werden: Wie sollte
man eine zweite Achterbahn in die dichte Struktur des Jetlines mit seinen
mehrfach kreuzenden Schienen einbauen, dabei das Lichtraumprofil einhalten und
dennoch ein ausgewogenes Thrillerlebnis bieten? Die Antwort suchte man in
München beim Ingenieurbüro Stengel, welches bereits das Design
(Layout, Statik und Dynamik) des Speedracer verantwortete. 1999 nahm Wendelin
Stückl Kontakt mit dem dem Firmengründer Werner Stengel auf.
|
Links: Jetline und Vilda Musen
beanspruchen knapp Fünftel der Fläche von Gröna Lund |
Stengel lehnte zur Überraschung der Beteiligten jedoch
ab - zu schwierig erschien ihm diese Aufgabe. Entmutigen ließ man sich in
Stockholm durch diese Aussage nicht. Die Planer von Gröna Lund nutzen ein
altes Modell des Jetline Coasters und erweiterten es um die angedachte
Streckenführung der Wilden Maus. Werner Stengel wurde schließlich
überzeugt und begann mit dem Design des maßgeschneiderten
Schienenverlaufes der Vilda Musen.
Dabei kam ihm zusätzlich das CAD-Modell der finnischen
Spezialfirma Cyra zugute. Da Jetline Mitte der 80er Jahre konstruiert wurde,
lagen die Fertigungsdaten nicht wie heute üblich als Computermodell vor.
Dies wurde mittels eines 3D-Lasermessverfahrens nachgeholt, damals einmalig in
der Geschichte der Achterbahnkonstruktion. Die Apparatur wurde am nicht weit
vom Jetline gelegenen Mondial Top Scan, einem windmühlenähnlichen
Überkopffahrgeschäft, angebracht. Dessen rotierender Hauptträger
bildete die Ausgangsbasis für die Messungen. Ein paar Tage später
konnte das Prozedere abgeschlossen werden. "Das damit generierte CAD-Modell
erreicht eine Toleranz von +/- 15 Millimetern auf 50 Meter", erklärt Peter
Osbeck stolz.
Auch der Hersteller der Achterbahn war schnell gefunden: Die
aufstrebende deutsche Firma Gerstlauer aus dem bayrischen Münsterhausen
hatte schon für Jetline die Elektrik installiert und durch die guten
Beziehungen zu Wendelin Stückl und Werner Stengel versprach man sich eine
fruchtbare Zusammenarbeit. Einzig und allein die Fertigung der Stützen und
zusätzlicher Verstärkungen überließ man einem estnischen
Stahlbaubetrieb. "Wieder 10 Prozent gespart" lautet darauf Peter Osbecks
Antwort mit einem verschmitzten Lächeln.
Bis Weihnachten 2002 waren alle Stahlteile eingepasst,
Anfang Januar begann das Team mit dem Verlegen der 430 Meter Schienenmeter.
Eine Woche später stand die Achterbahn und mit ihr ohne Zweifel die
kurioseste Wilde Maus der Welt. Kreuz und quer geht es durch den
Stützenwald, vorbei am S&S Turbo Drop und dem Top Scan. Es ist
schon erstaunlich, dass für eine Achterbahn dieser
Größenordnung keine einschneidenden Veränderungen in der
"Parklandschaft" des Gröna Lund vollzogen werden mussten. Einzig und
allein das Traumboot von Weber musste dem Stationsgebäude weichen, es fand
sich aber ein alternativer Standort auf dem viereinhalb Hektar großen
Gelände. |
|
|
|
|
Eindrücke von
Vilda Musen |
|
|
|
|
Rechts: Die Chaisen von Vilda Musen
begegnen sich im Stahlparcours |
Vilda Musen bietet einen Schienenverlauf, der gekonnt mit
den Elementen des klassischen Layouts einer typischen Wilden Maus spielt: Zwar
finden sich auch die haarsträubenden Kehrtwenden und die Camelbacks des
Originals wieder, doch setzt Gröna Lunds Exemplar verstärkt auf
tiefe, steile Abfahrten und lässt die Fahrgäste sogar in den Genuss
von quergeneigten, extrem engen Kurvenpassagen und einer finalen Achterschleife
kommen. Dabei ist das Layout rein äußerlich sehr simpel gestrickt,
bekommt aber durch die Integration in den Jetline Coaster eine besondere Note
in Sachen Unübersichtlichkeit verliehen.
Erst aus der Vogelperspektive wird der Streckenverlauf
offensichtlich: Nach einem engen 180° Turn aus dem ersten Stock des
Stationsgebäudes heraus folgt der an der Rückfront des Bahnhofs
positionierte Kettenlift, der die Chaisen zügig unterhalb des First Drop
von Jetline bringt. Mit einem furiosen Auftakt - Vilda Musens First Drop bietet
eine Längsneigung von 44° - jagen die Mäusechaisen
größtenteils über den Jetline hinweg.
Das oval ausgestaltete Grundlayout ist gespickt mit
verwirrenden Kurven und einigen waghalsigen Auf- und Abfahrten oberhalb des
dichten Kurvenarrangements des Speedracers. Eine Haarnadelkurve streift dabei
den S&S Turm derart haarscharf, dass Begegnungen mit der Gondel des
vertikalen Fahrgeschäftes zu wahren Schreckensmomenten führen -
für alle Beteiligten.
Dem verwinkelten Schienenarrangement schließen sich
zwei Camelbacks an, die unterhalb der ersten Abfahrt von Jetline direkt auf das
Dach des Stationsgebäudes der Mäusebahn zusteuern. Die geringen
Platzverhältnisse wollen schließlich geschont werden.
Wieder folgt eine enge Kehrtwende, dann rast die
Mäusechaise der Fotoanlage entgegen, passiert eine kleine Reduzierbremse
und jagt durch eine Achterschleife, direkt oberhalb der Köpfe der auf dem
Boden gebliebenen Besucher hinweg. Die Schleife stützt sich dabei mit den
beiden vorangegangenen Camelbacks und einem Teil des Lifthills auf eine
stählerne Fachwerkstruktur, die einen breiten Hauptweg überspannt.
|
|
Fakten zu Vilda Musen |
Boblsed Coaster der Firma
Gerstlauer, welcher eindrucksvoll in die bestehende Stützenstruktur des
Jetline Coasters integriert wurde. |
Gesamthöhe |
21
Meter |
Schienenlänge |
430 Meter |
Max. Geschwindigkeit |
55 km/h |
Max. Gefälle |
40° |
Kapazität |
800 Personen pro Stunde |
Fahrzeuge |
6 Fahrzeuge, 4 Plätze pro Fahrzeug |
Hersteller |
Gerstlauer Amusement Rides GmbH |
Gesamtkosten |
2,5 Millionen Euro |
Betreiber |
Gröna Lund Tivoli, Stockholm, Schweden |
Eröffnung |
18. April 2003 |
|
|
Link zur offiziellen
Webseite von Gröna Lund |
|
|
|
Magnetbremsen verzögern die Chaise
kurz vor der Station |
Schließlich findet die Hatz ein Ende in den
Magnetbremsen. Auffallend dabei: Die magnetischen Bremsmodule der Schlussbremse
nebst erforderlicher Bremsschwerter an den Chaisen wurden nur zu einer
Schienenseite angebracht. Peter Osbeck versichert, dass trotz der dabei
unsymmetrisch einwirkenden Verzögerungskraft kein höherer
Verschleiß vorhanden sei. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt,
dass bei den Sicherungsbremsen der einzelnen Blockabschnitten der Anlage
zusätzlich das herkömmliche Funktionsprinzip auf Basis der
Coulomb'schen Reibung Verwendung findet.
Vilda Musen und Jetline sind ein recht konträres Duo:
Während die Einzelfahrzeuge der Wilden Maus ständig um die eckigen,
haarscharfen Kurven jagen, die Mitfahrer in den Abfahrten wahre
Luftsprünge vollziehen lassen und eine Fahrdynamik mit ständiger
Beschleunigung und Verzögerung an den Tag legen, spulen die zeitlich eng
getakteten Züge des Jetline Coaster kraftvoll ein wahres High Speed
Feuerwerk im engen Kurvenrund ab. Grenzerfahrungen in Sachen Beschleunigungen
sind dabei beabsichtigt. Wenn es dann noch zu "zufälligen" Begegnungen der
Fahrzeuge beider Achterbahnen kommt, sind weitere Thrillerlebnisse
vorprogrammiert. Dieser Doppelpack zeigt hervorragend, wie sich zwei gute
Einzelanlagen zu etwas Besonderem kombinieren lassen. |
|
|
Text und Bilder: Coastersandmore - jp |
|
|
|